Christoph Schnauß


Privates

Biographie - Kindheit

Meine früheste Erinnerung ist in ein Dämmerlicht getaucht. An der Wand über meinem Bett tanzten Schatten. Schatten der Blätter eines Baumes, der vor dem Fenster stand und das Licht einer Straßenlaterne dämpfte. Dieser lautlose Tanz der Schatten irritierte mich, und ich versuchte, einige einzelne kleine Schatten aufzuhalten. Ich stand auf dazu in meinem Bett, stand auf der schwankenden Matratze, aber es gelang nicht, zu meiner großen Verwunderung. Dennoch versuchte ich es wieder und wieder, aber wenn ich die Hand flach an die Wand legte, so sprangen diese lautlosen Schatten auch über meinen Handrücken hinweg. Lange stand ich so; und ich schob abwechselnd beide Handrücken unter diesen zauberhaften Wechsel von Hell und Dunkel, und freute mich, beide Hände wieder bewegen zu können. Und stehen zu können, sicher stehen zu können, selbst auf der schwankenden Matratze. Und wieder, als ich zu lächeln versuchte, spüren zu können, daß sich die Mundwinkel bewegten. Am nächsten Tag, so wußte ich, würde ich entlassen werden aus dem Krankenhaus, schon war auch das zweite Bett des kleinen Krankenzimmers, das lange leer geblieben war, belegt worden, ein Junge schlief darin, der sich in Schlaf gehustet hatte. Er hatte, ehe er einschlief, ein Biskuit nicht aufessen können vor lauter Husten, und es zornig unter sein Bett geworfen, und weil ich mich wieder bewegen konnte, kroch ich, aus lauterer Freude an meiner Beweglichkeit, unter sein Bett und aß das Biskuit auf.

Noch heute, mehrere Jahrzehnte danach, weiß ich nicht genau, welchen Namens meine Krankheit war. Vielleicht war es wirklich Kinderlähmung, wahrscheinlicher aber eine infektiös bedingte Meningitis. Den Keuchhusten, der mich knapp eine Woche nach meiner Entlassung überfiel, verdankte ich dem Biskuit des fremden Jungen. Und vielleicht gibt es eine noch ältere Erinnerung als den Tanz der Schatten an der Wand: ich weiß auch von greller, blendender Sonne, während ich, auf einer Trage festgeschnallt, Stufen hinabgetragen wurde; weißgekleidete Gestalten hielten die Trage, auf der ich festgeschnallt war, sie trugen mich an der Birke vorbei, und ich war vier Jahre alt; ich hätte schon sprechen können, aber das Licht war so schmerzhaft hell, und die Trage schwankte, und alles war so weiß. Pfarrhaus Quittelsdorf

Das Haus, in dem wir damals wohnten, war eines jener Thüringer Dorfhäuser, die es heute eigentlich nur noch in Werbeprospekten gibt. Heute (2014) ist es ungepflegt und steht sogar zum Verkauf. Zwei Stockwerke, Fachwerk, und vor den Kinderzimmerfenstern die Zweige der Birke, die am Hang vor dem Haus stand, zur Straße hin. An der anderen Seite des Hauses, zum Wald hin, gab es eine Scheune, und einen Garten, und ein Stück grasbewachsenen Hof, auf dem Hühner umherliefen. Am Garten zog sich eine Hecke entlang, darin leuchteten rote, seltsam geformte kleine Früchte, die man nicht essen durfte. Sie hießen Pfaffenhütchen. An anderen Stellen gab es kleine weiße Kugeln im Gesträuch, die man ebenfalls nicht essen durfte, aber wenn man sie mit aller Kraft auf einen Stein schmiß, knallten sie leise. Sie hießen Schneebeeren. Und an wieder anderen Stellen gab es schwarzblaue kleine Beeren, die man essen konnte, bloß hingen sie zu hoch, und außerdem mußten sie gekocht werden. Sie hießen Holunder. Im Wald, gar nicht so weit entfernt, war es gefährlich: denn wenn man nicht auf dem Weg blieb, wurde es dämmrig zwischen den Bäumen, und bestimmt lauerte irgendwo ein Fuchs. Oder ein Wildschwein. Mit den Eichhörnchen ließ sich ja auskommen, die sprangen nur an den Baumstämmen umher, aber schon die Ameisenhaufen waren etwas, was man besser mied, und als ich einmal einen kleinen weißen Schädel fand, durfte der nicht angefaßt werden. Auch die schönen rothütigen Pilze durfte ich nicht anfassen, ebensowenig wie die schönste Blüte, die es im Wald gab und deren Name Fingerhut mir keiner richtig erklären konnte. Die blauen Glockenblumen auf der Wiese sahen bloß so ähnlich aus wie der Fingerhut, man durfte sie anfassen und sogar abreißen, viel mehr Spaß machte es jedoch, wenn in eine solche Blüte eine Biene oder eine Hummel gekrochen war, die Blüte schnell zuzuhalten. Bienen bleiben in solchen kleinen blauen Gefängnissen meist ruhig, versuchten aber, hindurchzustechen, Hummeln dagegen lärmten, und nach einiger Zeit mußte man die abgerissene Blüte mit dem lärmenden Insekt darin weit wegwerfen und schnell wegrennen.

Ich war fünf Jahre alt, als mein Vater in einer Thüringer Kleinstadt ein neues Pfarramt übernahm, und aus dieser Dorfkinderzeit blieben Erinnerungen an Fledermäuse im Turm der Dorfkirche, an schwingende Glocken in einem hölzernen Gestell, an die Birke vor dem Haus, an einen Kater, der mir einmal den Arm zerkratzte, an ein Schaukelpferd, das nicht mir gehörte. Das neue Haus, in das wir einzogen, hatte für mich allerhand Befremdliches. Seine Mauern bestanden nicht aus Fachwerk, sondern aus Stein, stellenweise aus Feldsteinen, und sie waren enorm dick, die Haustür erreichte man nur über eine Treppe, und innen ging es noch einmal eine geschwungene Holztreppe hinauf bis zur Wohnungstür. Das Schlimmste an dieser neuen Wohnung aber war die Toilette. Neuerdings mußte man an einem Porzellangriff ziehen, und, hatte man gezogen, so rauschte ein lärmender Wasserfall durch ein Rohr und verschwand gurgelnd in der unfaßbaren Tiefe des Toilettenbeckens. Ich war so etwas nicht gewohnt; und bis in mein zehntes Jahr hinein lebte ich in einer geradezu panischen Angst vor einem Klorausch, den meine Einbildungskraft so weit personifizierte, daß aus dem Spülbecken oben an der Wand manchmal ein grüner tropfender Arm nach mir langte. Im Märchen, etwa im "Eisenhans" der Brüder Grimm, gab es so etwas ja, und mit Wasser war ohnehin nicht zu spaßen. Man konnte geradezu darin ertrinken, und ich ertrank denn auch beinahe, als mir später einer meiner Mitschüler das Schwimmen beizubringen versuchte im Sommerbad.

In der Schule hatte sich sehr schnell herausgestellt, daß ich allen anderen Jungs körperlich unterlegen war. Sie kannten auch Spiele, die mir fremd waren: so rannten sie begeistert einem Ball hinterher, auf den man eintreten mußte und der in einem Tor landen sollte. Es fiel mir sogar schwer, überhaupt zu akzeptieren, daß es außer mir offenbar jetzt noch andere Jungs gab, denn in dem Dorf, das wir verlassen hatten, hatte es keine gegeben, und zuhause war nur die große Schwester da, mit der ich nichts anfangen konnte, und dann war noch eine Schwester dazugekommen, die aber zu klein war, um irgendwas mit ihr anfangen zu können. Jetzt gab es also auch noch andere Jungs, und sie schienen irgendein mir völlig unbekanntes Vergnügen dabei zu empfinden, wenn sie herumrennen und eben auf diesen Ball eintreten konnten. Ich begriff das nicht und glich meine körperliche Unterlegenheit dadurch aus, daß ich einfach der beste Mathematiker wurde und die schwierigsten Wörter lernte und für alle Fälle schon immer die Schulbücher durchlas, noch ehe die Dinge, die darin standen, im Unterricht angesprochen wurden. Um ganz sicher zu sein, nahm ich meiner um knapp ein Jahr älteren Schwester zu Beginn eines jeden Schuljahres ihre Bücher erst einmal weg und las sie selber von vorn bis hinten durch, vor allem das Mathematikbuch und das Lesebuch.

Allerdings schien selbst der Mathematik etwas Gefährliches anzuhaften, da man ihretwegen wie Archimedes erschlagen werden konnte, und das wollte ich nicht, weil das wohl weh tun mußte. Dennoch nahm ich einmal, 1963, an einer Mathematikolympiade teil und belegte einen zweiten Platz. Ein andermal lernte ich in zwei Tagen Schillers Ballade vom Taucher auswendig, um bei einem Wettbewerb junger Talente die Lehrer zu verblüffen, was auch gelang. Ich bekam gute Zeugnisse ... Als ich zehn Jahre alt war, schrieb der Klassenlehrer ins Zeugnis, die Ausdrucksweise sei äußerst reif und überrage den Durchschnitt. Kein Wunder: ich war ins Lesealter gelangt und verschlang alles an Lesestoff, was es nur geben mochte, und das war nicht eben wenig. Ich las die Bibel und Karl May, ließ mich von Jules Verne in 90 Tagen um die Welt führen, freute mich über Erwin Strittmatters Pony Pedro ebenso wie über die Digedags, die im Weltall umherfuhren. Und ein Weltall gab es, das wußte ich, denn während eines Aufenthalts in einem kleinen Dorf in der Sächsischen Schweiz im April 1961 hatte einer von den Erwachsenen davon erzählt, daß dort oben irgendwo grade ein Raumschiff fliege und ich hatte den Kopf in den Nacken geworfen und tatsächlich ein Lichtpünktchen gesehen, das sich bewegte, anders als die Sterne, die es sonst immer abends gab und von denen ich immerhin bereits wußte, daß einige zu einem Großen Wagen und andere zu anderen Sternbildern gehörten. Auch Jules Verne hatte ja sogar in einem Buch von einer Rakete geschrieben, mit der man zum Mond fliegen konnte, und da das in einem Buch stand, war kein Zweifel möglich, daß es das alles geben mußte: Raketen, Raumschiffe, Leute, die ins Weltall flogen - und überhaupt eben ein Weltall. Zwar wollte ich nicht sofort Kosmonaut werden, obwohl mir das Wort gefiel; ich bog mir dennoch einen Draht zurecht, steckte seine beiden Enden in die Ohren und glaubte fest, einen feinen, sirrenden Ton wahrnehmen zu können. Die Wissenschaft, die sich mit solchen Dingen beschäftigte, hieß Physik, in der Schule gab es einen Physiklehrer, der Herr Zipfel hieß und sich sehr bemühte, uns diese Wissenschaft nahezubringen, aber er war schon zufrieden, wenn ich sagen konnte, wie die Hebelgesetze funktionierten. Mir reichte das nicht, ich mochte bald in seinem Unterricht nicht mehr zuhören, las stattdessen irgendwas und sah wohl deswegen immer wie jemand aus, der am Unterricht interessiert ist. Herr Zipfel schrieb trotzdem ins Zeugnis, häufig hätte ich Hausaufgaben vergessen und statt der Schulbücher andere Bücher eingesteckt. Natürlich hatte er recht damit, gut fand ich es trotzdem nicht.

Ich wollte mich nicht als Streber verrufen lassen von den anderen. Daß es auf Zeugnissen dennoch Bestnoten geben müsse, war selbstverständlich. Es mußte sie geben; ich war ja nur dazu da, gute Leistungen zu zeigen, die Erwachsenen schienen das alle zu erwarten. Diese rätselhaften Wesen, die "Erwachsene" hießen und nur aus schwer verständlichen Handlungen bestanden ... Manchmal faßte mich da ein tiefer Überdruß, wenn mir erklärt wurde, das Erwachsenendasein sei schön, und erstrebenswert, und übrigens könne ich gar nicht anders, als eines Tages selbst erwachsen zu werden. Und es war peinlich, daß ich in Betragen, Fleiß, Ordnung nur die Note "gut" erhielt. Für "Mitarbeit" blieb die Note allerdings bis ins Abiturzeugnis die bestmögliche Note. Nur mit dem Sport war es problematisch: wenn ich nur an der Kletterstange nach oben sah, schwand mir bereits der Mut, und vor den Übungen am Reck fürchtete ich mich, weil von dort oben alles so verschwommen aussah. Gegen diese Verschwommenheiten konnte man aber etwas unternehmen: ich bekam eine Brille, die ich allerdings im Sportunterricht ständig verlor. Mein sportlicher Ehrgeiz wurde dadurch nicht sonderlich gefördert, aber die Brille wurde zur Legitimation dafür, daß ich nunmehr als Bebrillter in einer der vorderen Reihen der Schulbänke sitzen mußte. Dadurch kam ich im Unterricht auch häufiger dran als andere auf den hinteren Bänken. Bloß das Hefteführen und Hausaufgabenerledigenmüssen blieb lästig. "Christoph sollte besonders daran arbeiten, seine hervorragenden Denkleistungen mit einer exakten Ausführung seiner schriftlichen Arbeiten zu verbinden" schrieb der Klassenlehrer ins Zeugnis, ein Satz, den mein Vater noch jahrelang zitierte. Ich mochte aber gar keine "schriftlichen Arbeiten" und auch keine Hausaufgaben mehr erledigen. Im Mathematikbuch gab es wenige Wochen nach Schuljahresbeginn sowieso keine ungelösten Aufgaben mehr, das Lesebuch hatte ich spätestens nach einer Woche ausgelesen, andere Schulbücher waren uninteressant, aber die Lehrer wollten mit ihren Aufgaben immer nur Bruchstücke aus diesen Büchern erfahren, die ich doch längst kannte. Also las ich andere Bücher, bloß wollte kaum jemand wissen, was ich da las. Ich las immer eifriger, verwechselte mich bisweilen mit Don Quixote, ließ mir von Willi Meinck erklären, wie Marco Polo gereist war, lernte von Tom Sawyer, wie man einen Zaun zu streichen organisiert oder verfolgte erregt die Kämpfe des Mungos Rikki-Tikki-Tavi mit dem großen Ka, und wenn die Bücher zuhause ausgelesen waren, so gab es in der Stadtbibliothek noch immer lange Reihen bunter Buchrücken, die eine starke Anziehungskraft auf mich ausübten. Einen Fernsehapparat gab es damals noch nicht.

Wenn ich kein Buch las, so mußte ich üben: anfangs, als Vierjähriger kurz nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus, sollte ich Geige spielen lernen, später wurde es das Klavier, selbstverständlich hatte ich auch gelernt, Blockflöte zu spielen. Und im zwölften Lebensjahr kam das Waldhorn dazu, damit ich im Posaunenchor der Kirchgemeinde mitspielen konnte. Im selben Haus, in dem wir wohnten, wohnte unten auch der Kantor der Kirchgemeinde. Selbstverständlich bekam ich bei ihm Unterricht, und auch die Schwestern wurden von ihm unterrichtet. Manchmal allerdings, im Frühjahr und Frühsommer, lief ich nachmittags nach der Schule einfach davon, aus der kleinen Stadt hinaus bis hin zu einer Stelle, an der der Fluß einen sumpfigen Untergrund mit Wasser versorgte und stets ein paar wassergefüllte Tümpel zu finden waren. In diesen Tümpeln wimmelte es von Leben, da gab es Teichmolche und Salamanderlarven und Gelbrandkäfer, winzige Stichlinge, Wasserspinnen, Mückenlarven und allerlei Pflanzen wie Kalmus und Wasserpest und Tausendkraut. Die Molche, die ich im Frühjahr einfing, machten meiner Mutter nicht geringe Sorgen, wenn sie, einmal aus dem Aquarium geklettert, irgendwo unter einem Schrank vertrockneten. Und bisweilen, wenn ich nicht rechtzeitig bemerkte, daß sie abgelaicht hatten und wieder an Land wollten, ertranken sie auch. Wenn ich dann im Frühsommer die Molchlarven, die in meinem Aquarium geschlüpft waren, wieder zu diesen Tümpeln zurückbrachte und aussetzte, wunderte es mich, zu sehen, daß meine Tiere oft kleiner waren als ihre im Freien aufgewachsenen Geschwister. In den Heften einer Monatszeitschrift tat sich mir eine wunderbar bunte und oftmals rätselhafte Welt der Fische und Wasserpflanzen auf. Ich gab mein Taschengeld aus dafür, lungerte am Zeitungskiosk herum, um die jeweils neueste Ausgabe zu erhaschen, der Nachteil der Zeitschrift bestand nur darin, daß ihre Wasserwelt sehr weit entfernt war: in afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Flüssen und Seen schwammen diese bunten Fische umher, und das war leider sehr weit entfernt von der thüringischen Kleinstadt, in der ich zur Schule ging. Wahrscheinlich gibt es noch die Freunde dieser Kindertage in Weida. Sie sind längst Männer geworden, vielleicht Väter. Als ich 1966 die kleine Stadt verließ, waren wir vierzehn Jahre alt, und nur zweimal, 1977 und 1985, bin ich für sehr kurze Zeit wieder zu Besuch gewesen. Ich war ein Kind dort; aber wirklich zuhause war ich wohl nicht in Weida.

Da ich ein guter Schüler war, sollte ich das Abitur erwerben, nur war keine entsprechende Schule in der Nähe. Die nächste Oberschule gab es in Gera, der Bezirkshauptstadt in rund 15 Kilometern Entfernung, aber dort wurden die alten Sprachen nicht gelehrt, auf die mein Vater großen Wert legte. Theologe sollte, Biologe oder vielleicht Tierarzt wollte ich werden. Das Abitur war nötig, um eines Tages studieren zu können, und es stand für mich völlig außer Zweifel, daß ich Student werden würde. Schule, Oberschule, Universität, so hatte das Leben zu beginnen, weiter allerdings wußte ich nicht so richtig. Klar war nur, daß ein Ort mit einer Oberschule gefunden werden mußte, zu der auch ein möglichst kirchliches Internat gehörte. Eisenach wählten meine Eltern; dort gab es eine Oberschule, an der unter anderem die beiden alten Sprachen - Griechisch und Latein - gelehrt wurden, und dort gab es auch ein kirchlich geleitetes Internat. Die Mutter brachte mich hin, einen ganzen Tag vor dem ersten Unterrichtstag an der neuen Schule, noch war kein anderer meiner künftigen Mitschüler angereist. Als sie sich verabschiedete, blieb mir ein ganzer Tag in einer vollkommen fremden Stadt, in einem völlig leeren unbekannten Haus - nur die Hausmutter sah einmal kurz nach mir, als es Zeit für das Abendessen wurde und zeigte mir den Speisesaal, der bis auf mich leer blieb. Ich war das erstemal völlig allein.

Fünf Jahre blieb ich dort, in Eisenach. Das Haus, in dem wir als Schüler untergebracht waren, steht am Hang unterhalb des Burschenschaftsdenkmals. Die Straße, die von der Wartburgallee hinaufführt, ist steil. Jeden Tag wiederholte sich der Weg zur Schule, für den man wenig mehr als fünf Minuten hinunter, aber deutlich mehr als fünf Minuten wieder hinauf brauchte. Und der Schultag war bis auf Minuten hin ausbalanciert. Morgens trotteten wir hinein in die Klassenräume der Ernst-Abbe-Schule, mittags zurück ins Schülerheim. Nach der Mittagsruhe sah die Hausordnung vor, daß Schularbeiten erledigt werden müßten, es gab einen Studieninspektor, der bisweilen nachsah; ein examinierter Theologe. Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, abends zu kontrollieren, ob wir schlafen gegangen waren. Durch eine Reihe von Festlegungen der Hausordnung entwickelte sich etwas, was wir nicht sonderlich mochten, aber nicht ganz verhindern konnten: eine Art Klassenbewußtsein entsprechend der Altersstufe. Man war Neuner, Zehner, Elfer oder Zwölfer, je nach der Schulklasse, die Neuner hatten 21.15 Uhr im Bett zu liegen, die Zehner 21.30 Uhr, die Elfer 22 Uhr und die Zwölfer konnten das kontrollieren als Helfer des Studieninspektors und der Hausmutter. Sie durften auch Strafarbeiten verteilen, und es gab mehrere Stufen für Strafen. In der Regel bekam man bei irgendwelchen Verstößen ein sogenanntes Pensum zu erledigen, und das konnte alles mögliche sein. Diese Pensa gab es bereits für Bagatellen: wenn jemand nicht gegrüßt hatte, wenn man zu lange an einer bestimmten Klaviersonate übte, wenn man morgens beim Waschen aus Versehen einen Zwölfer bespritzte oder wenn man beim Kohlentragen maulte oder jemanden beim Lernen störte. Einmal hatte ich wenige Minuten nach dem Schlafengehen, als die Hausmutter den Raum nach ihrem Gutenachtwunsch wieder verlassen hatte, noch irgendetwas gesagt. Dieses Verstoßes wegen mußte ich dann das Periodensystem der Elemente auswendig lernen. Zwei Jahrzehnte später verblüffte mich mein bester Freund aus jenen Jahren, inzwischen promovierter Zahnarzt, mit der Bemerkung, was er als Chemie wisse, habe er von mir.

In der Erinnerung stellt sich dies alles freundlich dar, obwohl es bisweilen anstrengend war. Ich gehörte ohne allzuviel Anstrengung zu den besten Schülern meiner Klasse, es gab nur zwei, die bessere Noten erreichten. Nur mit dem Sport, wie auch mit der Hefteführung, wollte es nicht besser werden. Die Sprachausbildung gefiel mir sehr, auch mit dem Russischen hatte ich nicht viel Mühe, und unseren Griechisch-Latein-Lehrer verehrten wir aufrichtig, obschon er im Klassenbuch immer und immer wieder Noten eintrug, so daß jeder nach wenigen Wochen von "sehr gut" bis "unbefriedigend" alle Zensuren erhalten hatte. Im Sommer nahm er uns manchmal mit in den Kartausgarten, dort gibt es eine Blutbuche, deren mächtige Zweige eine grottenartige Laube bilden, Bänke stehen darunter im Kreis. Unter diesem Baum deklamierte er Homer oder erzählte nur oder fragte uns nach Vokabeln. Als er fünfzig Jahre alt wurde, organisierte einer von uns aus dem Landestheater Eisenach Uniformen, wie sie einst in Sparta getragen worden sein mochten, Helme und mattenartige Panzer, die wenig zuvor in einer Inszenierung von Peter Hacks' Aristophanesbearbeitung "der Frieden" gebraucht worden waren. Wir holten den Lehrer ab in einem Triumphzug, er mußte stehen in einem Auto mit aufgerolltem Dach, das Auto wurde flankiert von Moped- und Fahrradfahrern, auf dem Schulhof gab es eine Ehrenrunde und selbstverständlich gab es auch eine lateinisch gehaltene Laudatio.

Das Schülerheim ist heute längst keines mehr, der Weg, den wir von einer Pforte aus den Hang hinauf zum Haus nahmen, ist jetzt von Gesträuch überwuchert, an anderer Stelle führt nun eine asphaltierte Anfahrt zum Haus, so daß die Bewohner heute mindestens eine Unbequemlichkeit nicht mehr bewältigen müssen: das Kohlentragen. Es wurden damals jährlich Berge von Kohlen angefahren, Koks und Briketts, und wir bildeten Ketten Körbetragender, um die Kohlen ins Haus zu schaffen; wer schaufelte, durfte hernach als erster unter die Dusche ... Anfangs hatten ich und die vier anderen, die mit mir in dieselbe Klasse gingen, als Neuner in einem größeren Raum zusammengewohnt, später zogen zwei in ein Zweibettzimmer, ich zog mit Diethard M. (den wir "Benno" nannten) und Matthias G. (dessen Spitzname "Winston" lautete) erst in ein Dreibettzimmer, später gemeinsam mit Benno in ein Zweibettzimmer. An der Wand über meinem Bett hing an einer Zwirnsfadenkonstruktion ein ausrangierter Globus, auf dem Tisch, der für Schulaufgaben da war, stand ein kleines Aquarium, und man konnte außen an der Hauswand auf schmalen Steinsimsen heraufklettern ins offene Fenster. Gelegentlich mußte ich klettern, da die Haustür spätestens 22 Uhr verschlossen wurde, und nur Zwölfer manchmal länger im Ausgang bleiben durften. Wer nicht erwischt werden wollte, wenn er sich verspätet hatte, mußte also klettern, und im Frühsommer entwickelte sich eine Art Durchgangsverkehr für Kletterer in unserem Zimmer.

Ich war mittlerweile fast das geworden, was man einmal unter einem klassischen Gymnasiasten verstanden haben mochte. Ein Bebrillter, Verletzlicher, Träumender; linkisch in mancherlei Hinsicht, aber selbstverständlich voller unklarer Bewegtheiten. Was mit meinem Körper geschah, während der Pubertät, verstand ich nicht, und es wollte mir auch kein Bart wachsen. Auch auf Unterarmen und Unterschenkeln blieb ich beschämend dünn behaart im Gegensatz zu den anderen Männerkörpern. Es kamen aber, mit fünfzehn, sechzehn, die Träume: Mädchenkörper, lächelnde Gesichter, Hände. Boccaccios Dekameron hatten wir alle gelesen, hie und da auch Ovid. Und morgens, im Waschraum, musterten wir einander heimlich, bis jemand den Spruch "hart ist das Leben einer Ratte, noch härter ist die Morgenlatte" von sich gab - wir wurden Männer, das war nicht zu leugnen. Aber an der Tanzstunde durften Schülerheimer erst in der elften Klasse teilnehmen, während alle anderen Schüler der Ernst-Abbe-Schule im zehnten Schuljahr Tanzunterricht erhielten. Das hatte allerdings den Vorteil, daß, als wir denn auch tanzen lernen durften, die Mädchen einer jüngeren Klassenstufe angehörten. Der Tanzlehrer zeigte uns Foxtrott- und Walzerschritte, aber auf den Tonbandgeräten sammelten sich die Titel der Beatles, der Rolling Stones, der Kinks, und daß die Haare länger wuchsen, gefiel den Lehrern gar nicht. Als "zu lang" galt schon eine Frisur, bei der die Haare den Brillenbügel verdeckten und den oberen Rand der Ohren. Abbeschule

In der zwölften Klasse, im Abiturjahr, sollte, wer Lust dazu hatte, eine Jahresarbeit zu einem beliebigen Fachthema schreiben. Ich entschied mich selbstverständlich für eine Jahresarbeit im Fach Biologie und hielt einige Monate lang wieder Guppies, beobachtete mehrere Generationen, um die Mendelschen Regeln nachzuprüfen. Es geschah jedoch nichts, was sich nicht mit den drei Mendelschen Regeln hätte erklären lassen können. Nur mit den Molchlarven, die ich auch wieder hielt, geschah etwas völlig Unerwartetes: in einem Aquarium, das in der Nähe des Fensters stand und das ich oft beobachtete, wuchsen einige Dutzend Teichmolche heran, die etwa so lang wurden wie das erste Glied des Zeigefingers, und bereits mit dieser winzigen Körpergröße verloren sie ihre Kiemen und drängten aus dem Wasserleben an Land. In einem Gurkenglas jedoch, das ich in einer dunkleren und kühleren Ecke neben dem Schrank vergessen hatte und später zufällig wiederfand, war in einem Gewirr fädiger schleimiger Algen ein Molch zu fast Daumenlänge herangewachsen, mehr als doppelt so groß wie seine Geschwister, und er trug eine Halskrause kräftiger Kiemen ...

An Wochenenden entvölkerte sich das Schülerheim. Wer konnte, fuhr am Sonnabendnachmittag nach Hause, zu seinen Eltern. Und wenn es nur war, um frische Wäsche zu holen. Für mich lohnte es sich nicht, jedes Wochenende zu fahren; die Zugfahrt dauerte zu lange, ich wäre am späten Sonnabendabend erst angekommen und hätte am Sonntagmittag bereits wieder zurückfahren müssen. Also blieb ich an Wochenenden häufig in Eisenach. Nur wenige andere blieben ebenfalls. An solchen Wochenenden spielten wir zuweilen stundenlang Tischtennis; an einer Tafel zeigten Kreidestriche die Zahl der Spiele an, es kam vor, daß bis zum Abendessen 30 und mehr Sätze gespielt waren. An Wochenenden war auch das Gedränge unter der Dusche nicht so erheblich, man konnte sich etwas länger unter das warme Wasser stellen, vorausgesetzt, es wollte nicht jemand anderes gerade Trompete blasen üben, wozu sich der Duschraum besonders gut eignete. Klavierspielen lernten mehrere, das Klavier war kein sonderlich klangreines Instrument, im Lauf der Zeit lösten sich die Elfenbeinbeläge der Tasten. Ich bewunderte einige der Klavierspieler, versuchte, die Sonaten Schuberts, Mozarts, Beethovens zu spielen, das blieb dilettantisch, vertrieb mir aber die an Wochenenden so ungemein reichlich vorhandene Zeit. Es gab einige wenige, die sich an Improvisationen versuchten, Blues und Ragtime spielten, und es zu beachtlicher Fingerfertigkeit brachten. Ich probierte bisweilen, an sehr einsamen Wochenenden, Klangfiguren aus, ärgerlich, daß es sich unter meinen Fingern selten zu Fröhlichem ordnete, sondern schwermütig klang.

Diese Schwermut schrieb ich mir weg, als im Abiturjahr ein Aufsatz zum Thema "Darstellung meiner Entwicklung" verlangt wurde. Die narzißtische Bemerkung "manchmal hasse ich mich selbst" versah die Klassenleiterin, die deutsche Sprache und Literatur unterrichtete, mit einer roten Wellenlinie und schrieb an den Rand: "wer das liest, könnte erfrieren". Sie hatte recht; allein, ich befand mich in einer sehr unklaren Situation: einmal hatte ich mit einem Mädchen aus einer anderen Klasse einen Abendspaziergang zum Burschenschaftsdenkmal gemacht, von dort oben auf die Stadt herabgesehen, ihre in der hereinbrechenden Dunkelheit aufglimmenden Lichter bewundert, und es war mir sehr feierlich zumute gewesen; ich hatte ihr gesagt, daß ich meinte, einmal allen diesen jetzt zu Bett gehenden Menschen vielleicht etwas zu sagen zu haben - aber es hatte auf meine Bewerbung für einen Studienplatz keinen Zulassungsbescheid gegeben, ich wußte noch nicht, was nach dem Abitur kommen würde, mein Weltbild klaffte auseinander. Daß sich dem Abitur nicht nahtlos ein Hochschulstudium anschließen würde, irritierte mich zutiefst, und was ich eventuell falsch gemacht haben könnte, fand ich nicht heraus.

Erst einmal waren noch die Abiturprüfungen zu erledigen - und eine Facharbeiterprüfung. Der Jahrgang, dem ich angehörte, war der letzte, für den die gesetzliche Bestimmung galt, daß alle Abiturienten mit dem Abitur auch einen Facharbeiterbrief erwerben müßten. Für die Schüler der Ernst-Abbe-Schule gab es nur wenig Auswahlmöglichkeiten, und bereits vor der Aufnahme in Eisenach hatte die Schule entschieden, daß ich Kraftfahrzeugmechaniker werden sollte. Organisiert war das so, daß wir jeweils drei Wochen normalen Schulunterricht hatten und dann eine Woche lang ins Automobilwerk gingen - später wurde auch die "Produktionswoche" nochmals um zwei Tage verkürzt, so daß diese besondere Unterrichtswoche aus zwei Tagen Schule, zwei Tagen Berufsschule und zwei Tagen Arbeit in der Lehrwerkstatt oder am Band der Automobilwerke Eisenach bestand. Ich konnte dieser Ausbildung allerdings nichts abgewinnen, und in der Lehrwerkstatt wurden die Teile, die ich mit der Feile bearbeiten sollte, niemals plan und eben. Am Band, in der Montagehalle, ließen sich die Arbeitstage trotz ihrer Gleichförmigkeit ertragen, weil es niemals Stillstand gab, man niemals mit seinem Arbeitsgang wirklich "fertig" war. Immerhin bekamen wir ein Lehrlingsentgelt dafür, nichts anderes als ein Taschengeld: zuerst 40 Mark monatlich, dann jedes Jahr zehn Mark monatlich mehr. Auch diese Ausbildung sollte mit einer Prüfung abgeschlossen werden. Wir wurden eindringlich darauf hingewiesen, daß, wer diese Prüfung nicht bestehen sollte, auch sein Abiturzeugnis nicht ausgehändigt bekommen würde. Für den praktischen Teil hieß es, ich könne gerade so als bestanden benotet werden, und für den schriftlichen Teil erhielt ich die Aufgabe zugewiesen, ein paar Details des Wartburgmotors zu beschreiben. Ein Zusatzblatt verlangte, daß die schriftliche Arbeit nicht mehr als 8 Seiten umfassen sollte. Aber so sehr ich mich bemühte, es wurden trotz bewußt breiter Schrift nicht mehr als anderthalb Seiten, und das genügte nicht. Zwar bekam ich ein weiteres Thema angeboten, um das Ganze zu wiederholen, aber das habe ich niemals getan.

Wir waren jetzt 18jährige Abiturienten. Zeit für die Musterung, da es in der DDR eine allgemeine Wehrpflicht gab. Und selbstverständlich hatten wir ausführlich diskutiert, wie wir uns verhalten könnten, falls unmittelbar, wie wohl bei den meisten Gleichaltrigen, im September eine Einziehung zum Wehrdienst erfolgen sollte. Es gab die Möglichkeit, das zu verweigern und gegebenenfalls einen Wehrersatzdienst als "Bausoldat" zu wählen, der Musterung selbst aber konnte man sich nicht entziehen. Und so trotteten wir, als die entsprechenden Schreiben eintrafen, auch zum angegebenen Termin zum Wehrkeiskommando. Ein schmuckloser, unscheinbarer Bau in der Wartburgallee. Und eigenartigerweise hat sich davon so gut wie nichts in meinem Gedächtnis erhalten. Es müssen wohl irgendwelche ärztliche Untersuchungen erfolgt sein, ich weiß es nicht mehr. Nur das Ergebnis war wichtig: ich erhielt einen Schein, der mir bestätigte, ich sei aufgrund meines schlechten Sehvermögens dauerhaft vom Wehrdienst befreit, also ausgemustert. Damit waren alle Unsicherheiten, ob ich denn im 18. Lebensjahr mit einer Einberufung rechnen müsse, obsolet.

Mit dem Beginn der Prüfungszeit fand kein Schulunterricht mehr statt. Wer es für wichtig hielt, konnte aber mit Konsultationen bei den Lehrern noch Wissenslücken schließen. Wir wollten mit unserem Griechisch-/Lateinlehrer noch über Übersetzungsarbeiten sprechen, kurz vor dem Termin der schriftlichen Latein-Prüfung, und weil das ein heißer Tag war, dachten wir uns nichts besonderes dabei, barfuß in die Schule zu laufen. Das empfand jedoch der stellvertretende Schuldirektor als ungeheuerliche und zielgerichtet antisozialistische Provokation und einige Tage lang wurden wir im Ungewissen gelassen, ob wir überhaupt an den Abiturprüfungen würden teilnehmen dürfen. Schließlich durften wir, aber da dann bei meinen schriftlichen Prüfungsarbeiten zwar inhaltlich kaum etwas zu bemängeln war, die Handschrift und die Form jedoch wieder nicht überzeugten, wurde entschieden, daß ich auch die Höchstzahl der mündlichen Prüfungen zu bestehen hätte, darunter Deutsch und Musik und Mathematik. Eigentlich war mir das egal, in diesen drei Fächern hatte ich eine glatte 1,0 als Jahresdurchschnitt und in der schriftlichen Prüfung für Deutsch und Mathematik (Musik wurde nicht schriftlich geprüft) diese Noten bestätigt. Aber ausgerechnet in der mündlichen Mathematikprüfung wäre ich beinahe noch durchgefallen, als mir die Herleitung einer unendlichen geometrischen Reihe nicht gelingen wollte. Der Mathematiklehrer (er hieß tatsächlich Paul Engel, und war auch seinem Namen gemäß einer der liebenswürdigsten Menschen in der Lehrergemeinschaft dieser Schule) war völlig konsterniert, und am Ende wurde das Abiturzeugnis das erste Zeugnis meiner gesamten Schulzeit, auf dem für Mathematik keine Bestnote eingetragen werden konnte. Wir bekamen die Zeugnisse in einer feierlichen Zeremonie im Palas der Wartburg ausgehändigt - ich als letzter. Nicht, weil mein Name nach dem Alphabet als letzter aufgerufen werden mußte. Sondern weil ich als einziger Schüler meines gesamten Jahrgangs nur das Abiturzeugnis und nicht, wie die anderen, zugleich das Facharbeiterzeugnis überreicht bekam.

Eigentlich hätte ich das Schülerheim nach dem Abitur verlassen müssen. Nur wußte ich nicht, wohin. Die Eltern waren inzwischen nach Zwickau gezogen, eine Stadt, in der ich niemanden kannte. Und in Eisenach gab es auch außerhalb der Schule ein paar Freunde, und es gab ein Mädchen, das noch Schülerin der Abbe-Schule war und zu dem ich mich hingezogen fühlte - ich wollte also zunächst noch in Eisenach bleiben. Und da es für das Schülerheim kaum Neuanmeldungen für das nächste Schuljahr gab und damit mindestens noch ein Jahr lang Platz blieb, durfte ich schließlich bleiben. Es mußte nur noch irgendeine Arbeitsstelle gefunden werden. Das Automobilwerk kam für mich nicht in Frage, es interessierte mich nicht, und schließlich war ich dort ja durchgefallen. Aber in der Nähe Eisenachs, auf dem Clausberg, gab es ein Institut für Rinderzucht, die Söhne des Institutsleiters kannten mich aus der Schule und wußten auch, daß ich mich um einen Biologie-Studienplatz beworben hatte. Ihr Vater stellte mich als technischen Assistenten des Instituts ein, und nach einer kurzen Zeit der Einarbeitung im Institut selbst wurde ich einer kleinen Arbeitsgruppe zugeteilt, die auf dem Erfurter Schlachthof Protokollschlachtungen auszuführen hatte. Das bedeutete, daß ich nahezu täglich von Eisenach nach Erfurt auf den Schlachthof fahren mußte.

Unsere Arbeitsgruppe hatte von Tieren einer bestimmten Kreuzung genaue Schlachtprotokolle anzufertigen, alle Teile säuberlich zu messen und zu wiegen: Zunge, Klauen, Schwanz, innere Organe, Knochen, und selbstverständlich sämtliche Fleischbestandteile ... Es sollte untersucht werden, ob die Kreuzung aus Schwarzbuntem Niederungsvieh und Höhenfleckvieh zu besserem Fleischertrag führen würde. Wenn aus dem am Band hängenden Tier der Magen herausgelöst wurde, hatte ich die Schubkarre darunterzuschieben, um ihn zur Waage bringen zu können, und oft war ich dann eben auch mit allerhand übelriechenden Spritzern versehen, wenn so ein Magen aus dem Schlachtkörper in meine Schubkarre glitschte. Ein Rindermagen wog im Durchschnitt etwas mehr als ich selbst. Ich trug eine Gummischürze, Gummistiefel, eine weiße Fleischermütze, die Haare, die länger gewachsen waren, hielt ein Perlon-Haarnetz zusammen, es kursierte der Spitzname "Christine". In der Halle selbst dampfte es von den Leibern der geschlachteten Tiere und vom heißen Wasser, mit dem der Boden gereinigt wurde. Eine kleinere Waage, mit der Herz, Lungen, Schwanz, Füße, Kopf, Zunge, Leber und Nieren gewogen werden konnten, stand in der Halle, mit Haut oder Magen in der Schubkarre mußte ich nach draußen laufen. Kam ich in die Halle zurück, beschlug mir vom Gedampf die Brille, ich lief unsicher, rutschte, fiel hin, Magen oder Haut glitten aus der Karre. Im Winter wiederholte sich das mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit. Durch den raschen Temperaturwechsel wurde die Haut der Hände spröde, schrundig, riß bisweilen ein, und es ist leicht einzusehen, daß ich ständig an kleinen, umschriebenen, eiternden Entzündungen der Haut litt - mein Klavierspiel am Wochenende wurde immer seltener, immer schwermütiger. Es war Herbst geworden, der erste Herbst, in dem ich kein Schüler mehr war. Morgens, wenn ich das Schülerheim verließ - mein Zug fuhr vor sechs Uhr in Eisenach ab - schliefen alle anderen Hausbewohner noch, und es war dunkel; kam ich abends 17.16 Uhr zurück, war ich eben rechtzeitig zum Abendessen im Schülerheim, und die Stadt lag in ihren Lichtern unter der beginnenden Nacht. Mich ärgerte die scheinbare Gleichförmigkeit der Tage ...

Im Zug, auf der Rückfahrt, wurde ich beinahe täglich von Bahnpolizei kontrolliert. Sie sahen die Personalausweise durch und fragten manchmal, was ich denn in Eisenach zu tun hätte. Einmal schlief ich in einem Schnellzug ein und erwachte erst wieder, als er auf dem Eisenacher Bahnhof schon wieder anfuhr. Er hätte erst an der Grenze nochmals gehalten, also sprang ich heraus und verstauchte mir prompt den Fuß. Anderntags fragte mich einer der Fleischer lachend, welches Zentnerweib ich denn gestemmt hätte, daß ich noch mittags davon lahm ginge ... Meine Aufgabe war es, die Protokolle zu führen. Mit dem Messer arbeitete ich seltener, bewunderte aber das Geschick, mit dem die beiden Fleischer, die zu unserer Arbeitsgruppe gehörten, die einzelnen Fleischteile säuberlich auslösten. Es dauerte Wochen, bis ich begriff, daß es eine Fachsprache gab mit bestimmten Bedeutungen einzelner Wörter. "Auslösen" war so ein Wort: wenn mit dem Messer gearbeitet wurde, durfte in das Fleisch noch kein Schnitt gelangen, ehe nicht die Knochen so säuberlich als möglich davon getrennt waren. Man mußte wissen, welche Teile eines Rinderviertels Hochrippe, Fehlrippe oder Dünnung hießen, ansonsten war man blamiert. Andere Wörter, die gelegentlich fielen, verwirrten mich, da ich sie lange nicht zu deuten vermochte. Es kam vor, daß wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts ein Rind mit zerlegten und meine Protokolle musterten. "statistisch signifikant" wurde zu einem Wort zwingender Anziehungskraft, ich grübelte lange, was es aussagen mochte und wagte nicht, einen der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu fragen, weil ich mich nicht blamieren wollte.

Zeitungen zu lesen, war ich abends einfach zu müde ... Aber ein paar Bücher gab es. Und manchmal fuhren wir auch zu Einsätzen in andere thüringer Städte. Einmal waren in Saalfeld ein paar Bullen zu schlachten, am Nachmittag schlenderte ich durch die Stadt, in der ich 19 Jahre zuvor geboren worden war. Schneematsch auf den Straßen, fremde, oftmals vernachlässigte Fassaden, ein grauer Wintertag. In einer Buchhandlung stand, im Reclam-Verlag herausgegeben, ein Büchlein mit dem nichtssagenden Titel "drei Stücke". Der Name des Autors deutete auf einen Franzosen: Jean-Paul Sartre, ich blätterte flüchtig hindurch. Da standen Namen, die mir aus dem Griechisch-Unterricht bekannt waren: Orest, Elektra, Jupiter. Ich kaufte das Büchlein, es schien mir auch, als hätte ich den Namen des Autors schon einmal gehört. Aber was ich dann las, war zugleich bestürzend und erregend. Ich wurde, während ich von Saalfeld nach Eisenach fuhr, in eine Welt hineingesaugt, in der es von Schmeißfliegen schwirrte, in der ein verrückter Hamburger Krabben als Götterbilder behandelte, in der eine Prostituierte irgendwo in den USA einen Farbigen vor dem Gelynchtwerden retten wollte, aber, weil sie nur eine Frau war, dies nicht zuwege brachte. Der Zug schaukelte durch eine Schneelandschaft draußen, die Wörter des Buches brannten mir auf der Haut. "Sartre spielt in seiner Philosophie alle Möglichkeiten des Einzelmenschen durch, aber er bringt in dieser Frage keine neuen Aspekte" hatte jemand im Nachwort geschrieben, und dann noch: "er zerstört die Erkenntnis der tatsächlichen Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit" - eine Deutung, die sich mir nicht erschloß, ich strich die Sätze vorsichtshalber an.

Aber wohin nun mit dem Buch? Ich bewohnte ein Einzelzimmer, noch im Schülerheim, oben auf dem Schrank lagen in einem Pappkarton schon ein paar Büchlein. Bisweilen sah ich etwas bänglich diesen Schatz Bücher an, die, nebeneinandergereiht, etwa doppelte Unterarmlänge hätten ergeben können. Der Pappkarton hätte eine weit größere Menge Bücher zu fassen vermocht ... Das Zimmer war doppelt mannshoch, aber sehr schmal. Es bot Platz für den Kleiderschrank, mein Bett, einen schmalen Tisch am Fenster, eine Kommode. Einen Stuhl gab es auch. An einer Wand, über dem Heizkörper, brachte ich eine Kettenkostruktion aus Schlüsselringen an, in denen 6-Volt-Glühlämpchen befestigt wurden, die dann, in Reihe geschaltet, ein schwaches Licht von sich gaben. Mein Zimmer lag direkt an der Trennwand zur Toilette auf dieser Etage des Hauses, und noch immer kam es vor, daß ich nachts aufschrak, weil im Traum ein grüner tropfender Arm nach mir langte.

Dann wurde, wieder einmal, Frühling. Und es war inzwischen klar, daß auch meine zweite Bewerbung um ein Hochschulstudium nicht zum gewünschten Erfolg führen würde. Lehrer für Biologie und Chemie würde ich werden wollen, so gab ich es auf verschiedenen Schriftstücken an, und in Halle wolle ich studieren. Eine Zwickauer Ärztin trug in ein amtliches Formular ein, ich sei beschwerdefrei, bezöge keine Rente, sei 176 Zentimeter groß, 62 Kilogramm schwer, die Muskulatur sei normoton, die Haut sauber, angeborene Fehler gebe es nicht, der Blutdruck liege bei 125/85 RR, es gebe keine pathologischen Resistenzen, die Bruchpforten seien geschlossen, die Gliedmaßen intakt, Reflexe seitengleich auslösbar und nicht pathologisch, das Gebiß saniert, und insgesamt bestünden ärztlicherseits keine Bedenken gegen die Aufnahme eines Studiums. - "Die Rückstellung erfolgt aus Kontingentsgründen. Bei der hohen Zahl an Studienbewerbern mit einem besseren Leistungsdurchschnitt konnten Sie nicht in den Kreis der zu immatrikulierenden Studienbewerber einbezogen werden" - so stand es in einem Brief der Martin-Luther-Universität, und wenn mich das auch ärgerte, weil ich es nicht verstand, so war eben doch nichts zu machen, und ich fuhr weiterhin täglich auf den Erfurter Schlachthof. Da die Morgenstunden wieder hell wurden, nahm ich manchmal nicht den etwas öden Weg die noch stillen Straßen entlang, sondern stieg den Hang hinauf hinter dem Haus und über einen kleinen Bergrücken, und auf der anderen Seite einen steilen Waldpfad wieder hinab zum Bahnhof. Vogelgezwitscher in den sich mit Grün füllenden Ästen und Zweigen, kühl-klare Morgen, das gab dieses schwingende Einverständnis mit der Natur, so wenig sich auch davon bemerkbar machen mochte auf meinem kurzen Weg zum Bahnhof. Eine Ringelnatter einmal, ein andermal ein paar Rehe, die sich von mir kaum stören ließen. Im Juni, als ich eines Tages, wie bereits mehrfach, um 4.40 Uhr mit dem Schnellzug hätte nach Erfurt fahren müssen, blieb ich auf einem noch taufeuchten Stück Wiese stehen, durchaus voller Bewunderung für die Gräser, mit Sicherheit vermochte ich aber nur die Wegerich-Arten zu benennen. Ein paar Gänseblümchen gab es auch, Skabiosen schon, Kleeblätter hie und da. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf, mochte der Zug ohne mich fahren, ich würde sagen, ich hätte verschlafen. Es war mir auf einmal nicht mehr klar, weshalb ich das eigentlich tat, diese Schlachterei. Biologie konnte mit solcher Arbeit allein nicht gemeint sein. Und dann mußte ich lachen, und rollte lachend von meinem Baumstumpf ins Gras: es war mir aufgefallen, daß das Bild, das ich da auf dem Baumstumpf abgab, wohl Kitsch geworden wäre, hätte es jemand zeichnen wollen. Zum Glück war um diese Zeit am frühen Morgen noch niemand unterwegs, der mich hätte bemerken können.

Der Leiter des Clausberger Instituts, ein mehrfach promovierter Biologe, hatte mir bereits für die Studienbewerbung eine freundliche Beurteilung geschrieben. Er wußte auch, daß ich wieder nicht immatrikuliert worden war, und also mindestens für ein weiteres Jahr eine Arbeitsstelle brauchte - die Bezeichnung "Job" gab es im Sprachgebrauch dieser Jahre noch nicht. Im Schülerheim konnte ich nicht noch ein Jahr bleiben, und inzwischen mochte ich auch nicht mehr. An Wochenenden war ich häufiger nach Jena gefahren und hatte dort ein paar Studenten kennengelernt; und in Leipzig studierte mein bester Freund aus den Schuljahren Medizin, er hatte mir sogar einmal den Präpariersaal des Anatomischen Instituts gezeigt. In Eisenach gab es nichts mehr, was mich hätte binden können, auch der Vertrag mit dem Clausberger Institut war nur auf ein Jahr befristet und konnte mit einem Aufhebungsvertrag in beiderseitigem Einverständnis gelöst werden. Ich konnte nicht mehr bleiben.

Ein Jahrzehnt später traf ich in Burgscheidungen (wovon vielleicht noch zu erzählen sein wird) durch einen Zufall den Leiter des Clausberger Instituts wieder. In seinem Gedächtnis hatte sich ein Eindruck erhalten, den er mit der Formel "moralischer Egoismus" umschreiben konnte. Damals aber faßte er eine lange Unterredung, um die ich ihn gebeten hatte, in dem Satz zusammen:"Sie müssen entscheiden, was Sie tun wollen. Sie sind doch kein Kind mehr".

Nein, ein Kind war ich nicht mehr. Und es gab nur das eine Ziel: ein Hochschulstudium. Ich verstand die Ablehnungen noch nicht, die ich erfuhr. Sicher, das war auch anderen geschehen, daß sie nach dem Abitur nicht sofort einen Studienplatz erhielten oder zuerst zum Wehrdienst einberufen wurden. Aber sie hatten Zusagen oder Hoffnungen für eine kommende Zeit; ich nicht. Irgendwohin fort und weiter mußte es aber gehen mit mir.

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